Ich war mir über die Risiken meiner Arbeit bewusst, als ich den Job bei der Jameson Force Security Group annahm. Ich dachte, dass meine Zeit als Marine mich auf die Gefahr vorbereiten würde, der ich mich zu stellen hatte. Aber kein Training hätte mich jemals auf die Hilflosigkeit vorbereiten können, meine Teamkollegen sterben zu sehen, den qualvollen mentalen und physischen Schmerz der Folter oder die Verzweiflung während der Gefangenschaft.
Als ich nach einer fehlgeschlagenen Mission nach Pittsburgh zurückkehre, bin ich voller Schuldgefühle und werde von Albträumen heimgesucht. Ich verbringe meine Tage damit, den Teil von mir wiederzufinden, den ich in der Wüste verloren habe. Der Teil, der mich zu dem Malik Fournier gemacht hat, der ich einmal war.
Während die körperlichen Auswirkungen der Folter nachlassen, erweisen sich die emotionalen als viel hartnäckiger. Trost finde ich ausgerechnet bei der Person, bei der ich niemals Mitgefühl suchen sollte, denn Anna Tate hat durch diese Mission noch mehr verloren als ich. Nun ist Anna Witwe und alleinerziehende Mutter einer Tochter, die sie kurz nach dem Tod ihres Mannes zur Welt gebracht hat.
Sie bietet mir Trost, den ich nicht verdiene. Während meine Gefühle für Anna wachsen, mache ich mir Sorgen, dass sie mich verlässt, sobald sie die Wahrheit über das, was wirklich passiert ist, erfährt. Ich ziehe Anna genauso fest an mich heran, wie ich sie von mir wegschiebe. Die Hoffnung auf diese verbotene Liebe wird mich vor dem Geist retten, zu dem ich geworden bin.
Teil 5 der Jameson Force Security Group-Reihe von New York Times-Bestsellerautorin Sawyer Bennett.
Seit ihrem Debütroman im Jahr 2013 hat Sawyer Bennett zahlreiche Bücher von New Adult bis Erotic Romance veröffentlicht und es wiederholt auf die Bestsellerlisten der New York Times und USA Today geschafft.
Sawyer nutzt ihre Erfahrungen als ehemalige Strafverteidigerin in...
Cruce sieht mich an. „Wie geht’s der Kleinen? Wächst und gedeiht?“
„Ja.“ Sofort hole ich mein Handy aus der Handtasche und zeige ihm Fotos.
„Die musst du unbedingt Barrett schicken“, sagt er und lacht. „Sie ist im Babyfieber.“
„Wirklich?“ Ich hebe die Augenbrauen. „Versucht ihr beide es?“
„Ja, wenn wir mal auf derselben Seite des Kontinents sind“, übertreibt er bitter.
Malik wirkt verwirrt, also kläre ich ihn auf. „Barrett reist ständig nach Kalifornien, wo sie einem privaten Forschungskonsortium hilft, einen Reaktor für Fusionsenergie zu entwickeln.“
Malik blinzelt ein paarmal. „Klingt nach einer klugen Frau.“
„Doppelter Doktortitel als Elektroingenieurin und Physikerin“,...
...antwortet Cruce lautstark und wölbt stolz die Brust. Dann geht er dichter an Malik heran, sieht sich kurz um, ob jemand lauscht. „Aber davon darf man sich nicht blenden lassen. Sie ist außerdem noch verdammt heiß.“
Ich schnaube und Malik lacht auf. „Zur Kenntnis genommen.“
Wir füllen uns die Teller mit Rinderlende mit scharfer Meerrettichkruste, Shrimps mit Cajun-Gewürz, glasierten Karotten, Nudelsalat, Teigtaschen und Aufschnitt von einer Wurst- und Schinkenplatte. Die Portionen auf meinem Teller sind klein und geordnet, während Maliks Teller mit einem hohen Berg beladen ist.
Cruce setzt sich mit uns an einen Tisch, an dem sich bereits Ladd McDermott und Jackson Gale befinden. Beide wurden erst eingestellt, als Malik in Gefangenschaft war, also stelle ich die Männer einander vor. Die beiden sind entspannte Typen und heißen Malik sofort willkommen. Mit einundvierzig ist Ladd einer unserer ältesten Agenten. Seine Haare sind vorzeitig silbern geworden und er trägt sie kurz und nach vorn gekämmt. Seine stechenden blauen Augen wirkten erst eisig, doch er ist ein netter Kerl, wie ich bei unserem wenigen Kontakt bereits feststellen konnte. Kynan hat mir gesagt, dass er früher beim CIA war, also hat er bestimmt eine Menge coole Geschichten auf Lager.
Jackson ist ungefähr in Maliks Alter und ein früherer Navy SEAL. Cage hat ihn vor ein paar Monaten zu Jameson gebracht. Obwohl er erst Mitte zwanzig ist, hat er die Ausstrahlung eines älteren Mannes. Natürlich nicht körperlich, sondern geistig. Es scheint, als hätte er schon Dinge gesehen, die er nicht gesehen haben sollte, und als hätte er dadurch eine Weisheit erlangt, die andere in seinem Alter noch nicht haben.
„Wo ist Cage?“, fragt Jackson.
„In San Francisco“, antworte ich und schneide in mein Fleisch. „Er und Rachel halten die ganze Woche auf einer Sicherheitskonferenz Vorträge.“
Rachel ist Kynans Stellvertreterin und führt das Büro in Vegas. Ich habe sie noch nicht persönlich kennengelernt, aber schon oft mit ihr telefoniert und über Skype gesprochen. Sie ist unglaublich cool. Das ist einer der vielen Gründe, warum ich so gern bei Jameson arbeite und Kynan als Boss habe. Er gibt Frauen leitende Positionen und glaubt nicht daran, dass ihr Geschlecht ein Hindernis ist.
Ich denke oft darüber nach, ob ich auch einmal in eine bessere Position rutschen kann. Immerhin habe ich eine militärische Ausbildung. Ich bin mutig und abenteuerlustig und scheue nicht vor Herausforderungen zurück. Obwohl ich gut als Kynans Assistentin bin, weiß ich doch, dass ich noch mehr zu bieten habe.
„Ich würde heute gern noch ins The Basement gehen“, sagt Jackson zu Malik. „Kommst du mit?“
Zu meiner Überraschung sieht Malik mich an. Obwohl sein Ausdruck neutral bleibt, kann ich die Frage in seinen Augen lesen.
Soll ich?
Er fragt das nicht aus Besitzanspruchsgründen meinerseits, sondern weil er wissen will, ob ich ihn für bereit halte, sich mit seinen neuen Kollegen ins Nachtleben zu stürzen.
„Dann sollte man besser alle ungebundenen Frauen da draußen warnen“, sage ich mit einem Zwinkern.
Malik fasst das als meine Zustimmung auf. Ja, ich glaube, das würde ihm guttun. Außerdem sollte er Beziehungen mit seinen Teammitgliedern aufbauen.
„Und was ist mit dir?“, fragt er Ladd.
Der schüttelt den Kopf. „Sorry, habe schon etwas anderes vor, aber vielleicht ein andermal. Die haben da dieses neue Axtwerfen, und das klingt ganz nach meinem Geschmack.“
„Komm doch auch mit, Anna“, sagt Malik, als ich mich zu ihm drehe.
Wieder ist seinem Ausdruck nichts abzulesen und sein Tonfall ist auch neutral, und es klingt nicht nach reiner Höflichkeit, sondern es scheint ihm eher wichtig zu sein, dass ich mitkomme.
Sofort schlägt Jackson in dieselbe Kerbe und korrigiert seine Einladung. „Natürlich, Anna. Du kannst auch mitkommen. Ich wollte dich nicht ausschließen. Ich habe nur angenommen, dass du zu Avery nach Hause musst.“
„Meine Mom hat sie heute“, antworte ich mit einem verständnisvollen Lächeln. Dennoch ist mir klar, dass die Einladung teilweise doch exklusiv war, und zwar nicht, weil Jackson ein blöder Kerl ist. Sondern weil ich nicht wirklich zu diesem Team gehöre. Ich bin nur Kynans Assistentin, was kein Vergleich ist zu der Beziehung, die die Agenten untereinander haben, die gemeinsam bei Operationen ihr Leben aufs Spiel setzen.
Vielleicht sollte ich mit Kynan über eine Beförderung sprechen. Ich bin sicher, dass ich im Team dienlicher wäre, auch wenn Jimmy sich im Grab umdrehen würde, wenn ich an so etwas auch nur denke.
Lieber werde ich vorher mit Malik darüber reden und mal abwarten, was er davon hält.
Plötzlich wird mir klar, dass Malik zu meiner Vertrauensperson geworden ist, an die ich mich wende, wenn es um lebensentscheidende Entschlüsse geht.
Jimmy ist nicht mehr für mich da.
Mom würde nur sagen, dass ich Blödsinn rede.
Meine beste Freundin würde es nicht verstehen.
Cage ist zu sehr mit seiner neuen Liebe beschäftigt.
Aber Malik wird mich verstehen. Er lässt mich darüber reden. Vielleicht wird er nicht zustimmen, aber er würde trotzdem alles in Bewegung setzen, damit ich meine Ziele erreiche. Mir fällt auf, dass es eine Menge Vertrauen ist, das ich in ihn setze, doch das ändert nichts an der Tatsache.
Malik
Anna beugt den Arm, verengt konzentriert die Augen und ihre Zungenspitze lugt seitlich ein Stück aus ihrem Mund heraus, was absolut bezaubernd ist. Sie hält inne, visiert das Ziel an und lässt die Axt fliegen. Mühelos segelt diese durch die Luft und trifft mitten ins Zentrum, ins Bullseye.
„Verdammt“, brummt Jackson geschlagen und kippt sein Bier ab. „So was habe ich noch nie erlebt.“
Anna dreht sich uns zu. In ihren Augen glänzen Triumph und Alkohol. Ich halte meine Hand hoch und sie gibt mir ein heftiges High Five. Widerwillig macht Jackson dieselbe Geste. Seit fünf Spielen tritt Anna uns nun schon in den Hintern. Auch wenn mein männliches Ego langsam Dellen bekommt, genieße ich es umso mehr, wie Anna sich amüsiert. Am Wochenende, als ich bei ihr war, um das Ersatzteil in den Geschirrspüler einzubauen, hat sie zugegeben, sich manchmal schuldig zu fühlen, wenn sie fröhliche Momente hat. Ich kenne das Gefühl. Es fällt einem schwer, sich sein Glück zu erlauben, wenn gute Menschen wie Jimmy und Sal das nicht mehr können. Ich habe ihr dazu etwas gesagt und hoffe, dass sie sich noch lange daran erinnern wird.
„Jimmy würde wollen, dass du glücklich bist.“
Jackson nimmt sein Handy von dem Stehtisch, um den wir versammelt sind, und ist eine Weile darauf konzentriert. „Ich muss jetzt gehen“, verkündet er dann.
„Heißes Date?“, neckt ihn Anna, nimmt ihr Bier in die Hand und trinkt einen Schluck.
Sie trinkt jetzt langsamer, hat aber trotzdem schon ein paar intus. Was ihre Zielsicherheit beim Axtwurf umso erstaunlicher macht.
„Du bist eine Lady“, neckt er sie im Gegenzug. „Also ja … nennen wir es ein Date.“
Anna schnaubt und stößt mir leicht in die Rippen. „Er meint eine Eroberung.“
„Ja, habe ich kapiert“, antworte ich mit einem Lachen.
Eine Kellnerin kommt vorbei und fragt uns, ob wir noch eine Runde wollen. Aus Rücksicht auf Anna lehne ich ab, denn sie hat sicherlich bereits genug, und ich möchte nicht, dass sie sich morgen die Seele aus dem Leib kotzt. Über mich selbst mache ich mir normalerweise keine solchen Gedanken, aber da ich noch um die zehn Kilo zunehmen muss und seit Monaten keinen Alkohol mehr hatte, ist es auch für mich Zeit, aufzuhören.
Wir bezahlen unsere Rechnung und Jackson verabschiedet sich und verspricht Anna eine baldige Revanche. Wir gehen durch den Nachtclub. Die meisten Leute kommen zum Trinken und Tanzen her und wir wegen des neuen Unterhaltungsbereichs, wie zum Beispiel dem beliebten Axtwerfen.
Als wir in die kalte Dezemberluft treten, machen wir die Reißverschlüsse unserer Jacken zu. Auch wenn es heute viel kälter ist, als die Nächte in Syrien waren, empfand ich es dort viel frostiger, weil ich keinen Schutz dagegen hatte. Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass Einsamkeit und Isolation einen noch kälter fühlen lassen.
Anna öffnet die Uber-App in ihrem Handy und bestellt einen Fahrer.
„Ich fahre mit dir und dann weiter zu Jameson.“
„Das musst du nicht. Es ist nur eine kurze Strecke.“
„Und du könntest dir versehentlich Jeffrey Dahmer als Fahrer bestellen“, gebe ich zu bedenken.
Anna schnaubt. „Der ist homosexuell. Ich glaube nicht, dass ich seinen Geschmack treffe.“
Ich sehe sie streng an. „Der Punkt ist, dass du irgendjemandes Geschmack treffen könntest. Ich fahre mit dir, das ist mein letztes Wort.“
„Na gut“, gibt sie leicht benebelt grinsend nach. „Du bist so ein Höhlenmensch.“
„Pass auf, dass ich dir nicht eins über den Schädel schlage und dich an den Haaren in meine Höhle zerre.“
Anna lacht, steckt ihr Handy weg und hakt sich bei mir unter. Sie lehnt sich an mich und drückt meinen Arm. „Mit dir macht es echt viel Spaß, Malik.“
„Dito“, hauche ich. Ich erkenne die krasse Wahrheit darin, was mich immer noch irgendwie beschämt. Doch ich habe mich entschlossen, mich einfach treiben zu lassen, denn das Leben ist verflucht kompliziert.
Unser Fahrer ist ein verpickelter Jugendlicher, der die ganze Zeit plappert. Er studiert an der Duquesne Uni und hat gerade erst als Uber-Fahrer angefangen, um sich etwas dazuzuverdienen. Anna trifft nicht viele fremde Menschen und plaudert locker mit. Ich versuche, zu ignorieren, dass sie beim Einsteigen nicht ganz rübergerutscht ist, sodass sich unsere Arme und Beine berühren. Das ist ganz unschuldig, dennoch habe ich das Gefühl, als ob sich ihre Hitze durch meinen Parka brennt. Ich versuche, es zu ignorieren, und schiebe diese Gedanken auf den Alkohol, den ich intus habe.
Der Wagen fährt vor Annas Haus vor, und ich öffne die Tür, weil ich auf der rechten Seite sitze. Bevor ich aussteige, informiere ich den Fahrer, dass ich noch eine Meile weiterfahren muss.
„Sorry, Mann“, antwortet er. „Ich hab schon wieder den nächsten Auftrag.“
„Kein Problem.“ Ich steige aus und reiche Anna die Hand. Auf leicht wackeligen Beinen steigt sie auf den Gehweg. Ich halte sie fester, um sie zu stabilisieren, und dann lasse ich sie wieder los.
Sobald ich die Tür zugeworfen habe, fährt der Fahrer wieder los. Anna holt ihr Handy hervor und addiert in der App noch ein Trinkgeld für ihn dazu. Ich greife nach meinem Handy, um mir einen eigenes Uber zu bestellen, doch Anna packt mich am Handgelenk.
„Du kannst gern bei mir warten, wo es warm ist.“
„Ich weiß nicht so recht …“
„Ach, komm schon. Ich habe gestern einen Kuchen gebacken und noch genau zwei Stückchen übrig.“
Ich betrachte Anna. Ihre Wangen sind rosa von der Kälte und das Haar wallt ihr über die Schultern. In dem weichen Licht der Hausbeleuchtung erscheinen ihre Augen mehr blau als grau und sie funkeln vor guter Laune und Alkohol.
Ich sollte Nein sagen, aber ich glaube nicht, dass das in meiner Macht steht, denn ich möchte nicht, dass der Abend schon endet. Ich genieße es viel zu sehr, bei ihr zu sein. Wie sie mich erfüllt, findet meine geschundene Seele einfach viel zu schön, um es aufzugeben.
„Gut“, knurre ich und biete ihr meinen Arm an. Sie hakt sich wieder bei mir unter und wir gehen zur Haustür. „Ich kann ja mal deine Backkünste testen.“
„Ehrlich gesagt“, flüstert sie verschwörerisch, „kann ich gar nicht gut backen, aber es ist Schokolade drin, also ist es essbar.“
„Ich bin abenteuerlustig, los geht’s.“
Wir gehen nach oben zu Annas Apartment, und ich versuche, das nagende Gefühl zu verdrängen, dass das hier ein Fehler ist. Wenn ich normalerweise nach einem feuchtfröhlichen Abend in das Apartment einer Frau gehe, denke ich nur an eins. Sex.
Und daran denke ich gerade überhaupt nicht.
Ich schwöre es.
Ich denke auf viele unangebrachte Arten an Anna. Wie gern ich bei ihr bin und dass sie die schönste Frau ist, die ich je gesehen habe, doch kein einziges Mal habe ich es mir gestattet, auf sexuelle Weise an sie zu denken.
Aber jetzt denke ich daran.
Fuck!
Als Anna ihre Tür aufschließt, werde ich von massiven Zweifeln überrollt. „Weißt du was … vielleicht bestelle ich doch lieber den Fahrer.“
„Ach, sei kein Baby.“ Sie lacht und schiebt mich durch die Tür. „Ich schwöre, dass dich mein Kuchen nicht vergiften wird.“
Sie geht durchs Wohnzimmer in die Küche. Hilflos folge ich ihr, denn ich will verdammt noch mal nicht, dass der Abend schon vorbei ist.
„Willst du Sahne auf dem Kuchen?“, fragt Anna, als ich in die Küche komme.
Der Kuchen steht vor ihr und mit der Sprühsahne in der Hand holt sie ein Messer aus der Schublade. Sie hat ihre Jacke schon ausgezogen, also werfe ich meine über ihre auf dem Küchenstuhl.
„Gern.“ Ich gehe an den Kühlschrank und hole Wasserflaschen heraus.
„Da ist auch Bier, falls du eins möchtest.“
„Ich glaube, ich hatte für heute genug Bier.“ Ich lache und halte die zwei Wasserflaschen hoch.
„Oh Gott, ich auch.“ Anna stöhnt auf. „Die Kopfschmerzen fangen schon an.“
Ich schließe den Kühlschrank und stelle Anna eine Flasche auf die Arbeitsplatte. „Trink die hier leer und vor dem Schlafengehen noch eine.“
Anna verdreht die Augen. „Ja, Papa.“
Ich öffne mein Wasser und sehe zu, wie sie den Kuchen in zwei Stücke schneidet, ihn auf zwei Teller verteilt und die Sahne in die Hand nimmt. Sie schüttelt die Sprühsahne heftig und zielt auf ein Stück Kuchen. Ich werde wohl nie erfahren, ob die Dose defekt war oder einfach zu viel Druck hatte, aber als Anna sie betätigt, spritzt der cremige Schaum überall hin, und das meiste davon auf meinen Arm.
„Heilige Scheiße!“, ruft Anna und lacht unterdrückt, stellt die Dose ab und wischt auf meinem Arm herum. „Das tut mir echt leid.“
„Nein, tut es nicht“, knurre ich neckend und greife nach einem Küchenhandtuch.
Anna lacht weiter, während ich die Sahne von meinem Flanellhemd wische. „Stimmt, es tut mir nicht leid.“
Sie blickt von meinem Arm zu mir hoch und lächelt amüsiert und voller Albernheit. Ohne Zweifel ist sie das schönste Wesen, das ich je gesehen habe. Ich bin fasziniert erstarrt, als sie mit dem Finger an meinem Hals entlang wischt.
„Da ist auch etwas gelandet.“
Die irrationale Vorstellung, dass sie gleich den Finger mit dem kaum sichtbaren Sahneklecks auf ihre Zunge legt und ihn genüsslich ableckt, überkommt mich. Sofort fühle ich mich wie ein Arsch, das auch nur zu denken, doch Anna nimmt mir nur das Handtuch ab und wischt sich den Finger damit sauber.
Irgendwann werde ich an diesen Moment zurückdenken und mich fragen, ob ich in der Gefangenschaft vielleicht verrückt geworden bin, doch meine Hand bewegt sich von ganz allein und schnappt sich Annas. Mit erstauntem Blick sieht sie mich an, und ich freue mich, keine Angst in ihren Augen zu sehen.
Nur Neugier.
Das Herz hämmert mir in der Brust. Kein neues Gefühl, denn das hatte ich oft in Syrien. Als die Gewehrkugeln flogen, als ich gefoltert wurde, als sie mich in das Loch warfen. Immer aus Angst. Auch jetzt ist es Angst, als ich diese Frau ansehe, die mir nach so kurzer Zeit schon so viel bedeutet, und ich verstehe kein bisschen, was ich verdammt noch mal hier tue.
„Ich will etwas“, sage ich, ohne den Blick von ihr zu nehmen.
Anna neigt leicht den Kopf zur Seite und fragt mich stumm: Was?
Meine Gedanken rasen, suchen nach einer Antwort. Es ist nicht fair, etwas von ihr zu wollen, doch mein Mund spricht die Worte aus, bevor ich sie zurückhalten kann. „Einen Kuss.“
Erstaunt blinzelt sie. „Oh“, sagt sie leise.
„Sag mir, dass ich aus deinem Apartment verschwinden soll“, verlange ich ein bisschen zu barsch, doch ich versuche, sie zur Vernunft zu bringen, weil ich keine habe.
Verflucht und zugenäht, aber sie kommt noch näher und schüttelt den Kopf. „Das werde ich nicht tun.“
„Sag mir, dass ich etwas Dummes will.“ Diesmal klingt es wie ein Betteln.
„Niemals“, verspricht sie mit dem Hauch eines Flüsterns.
„Sag mir, dass es falsch ist.“ Ich neige den Kopf und sehe auf ihren Mund. „Bitte stoß mich weg und sag mir, dass es falsch ist.“
Doch stattdessen geht Anna auf die Zehenspitzen und bewegt sich mit dem Mund auf mich zu. Fest umfasst sie meine Hand, ohne mich sonst noch irgendwo anzufassen, und presst ihre Lippen auf meine. Plötzlich wird mir klar, dass mein Leben nie wieder dasselbe sein wird.
Alles um uns herum verschwindet. Die Küche, der Kuchen, die Last der Welt. Da ist nur noch Anna, der Duft ihres Shampoos und des Biers in ihrem Atem. Ihr Mund ist ein Dieb, raubt mir den Atem, und ich wusste nicht, dass sich etwas so gut und gleichzeitig so schmerzhaft anfühlen kann.
„Ich muss gehen“, murmele ich und ziehe mich abrupt von ihr zurück. Ich wirbele herum, schnappe mir meine Jacke und eile zur Tür.
„Warte“, ruft Anna, und ich höre, wie sie mir nachkommt. „Bitte geh nicht.“
Ich habe die Türklinke in der Hand und bewege sie, aber dann wird mir klar, dass ich Anna mehr schulde als das. Als ich mich umdrehe, steht sie mit schmerzlichem Gesichtsausdruck vor mir. Man sehe sich das an … schon nach einem Fünf-Sekunden-Kuss habe ich es geschafft, sie zu verletzen.
„Das ist nicht richtig“, sage ich. „Du … ich … es tut mir leid.“
Sie legt eine Hand auf meinen Arm und zieht an mir, bis ich sie wieder direkt ansehe. Schweren Herzens tue ich es, darauf vorbereitet, ihr zu sagen, dass ich das alles nicht verdiene.
Aber wir reden nicht, sondern ihr Mund ist schon wieder auf meinem. Mit ihren kleinen Händen umfasst sie mein Gesicht und presst ihren Körper an mich.
Da draußen in der kalten Wüste gab es eine Zeit, in der ich sterben wollte, aber in diesem Moment fühle ich nichts als Leben. Wärme, Elektrisierung, Freude, Erfüllung. All das durch ihren Kuss, ihre Lippen auf meinem Mund, die ausdrücken, was sie gerade fühlt.
Anna zieht sich zurück, umfasst aber weiterhin meine Wangen und sieht mir direkt in die Augen. „An uns beiden ist nichts Falsches.“
Ich sage nichts.
„Gar nichts“, sagt sie, lässt mein Gesicht los und tritt einen Schritt zurück. „Aber wir haben beide zu viel getrunken, und ich will verdammt sein, wenn wir es darauf schieben müssten.“
„Anna“, sage ich, doch schließe schnell den Mund. Ich habe keine Ahnung, was zum Geier ich sagen soll.
„Gute Nacht, Malik“, sagt sie, greift an mir vorbei und öffnet die Tür.
Ich seufze, ziehe die Jacke an und trete in den Flur. Es fühlt sich an, als hätte ich alles verdorben, also betrachte ich sie noch einmal gründlich, weil es vielleicht das letzte Mal sein wird.
Anna lächelt, kommt an die Türschwelle und greift nach meiner Hand. Sie legt ihre warmen Finger um meine und drückt leicht zu. „Ich hoffe, du wirst mich wieder küssen, wenn ich nüchtern bin. Und dann können wir darüber diskutieren, ob es richtig oder falsch ist.“
Schockiert blinzele ich, als ihre Worte einsinken und meine Gedanken zum Karussell machen.
Dann ist ihre Hand verschwunden und sie schließt die Tür vor meiner Nase.
Ich habe keine Ahnung, was zur Hölle soeben passiert ist.